Knaller (Gast) - 3. Jul, 01:13

Man muss ja schon froh sein, dass sie überhaupt die Polizei gerufen hat. Ich kann es schon nachvollziehen, dass bis dahin 10 Minuten vergangen sind und sie nicht die Tür geöffnet hat, auch wenn ich das Verhalten natürlich nicht unbedingt gut finde.
Es scheint sich mir da nicht um einen Fall bloßer absichtlicher Ignoranz oder völlig unbewusster Missachtung zu handeln. Eine junge Frau, alleine in der Wohnung, mitten in der Nacht, sicher aus dem Bett geklingelt, schlaftrunken, im Nachthemd o.ä. Muss erst mal wach werden, sich orientieren, hört die Hilfeschreie einer Frau. Das Herz klopft, das Adrenalin, das einen aus dem Schlaf gerissen hat, lähmt das Denken; Angst, was da los ist, wer warum geklingelt hat.
Im StudiVZ gibt es eine Gruppe mit über 60000 Mitgliedern, Titel „Wenn es an der Tür klingelt, stelle ich mich tot“, und wenn man die Diskussionen in der Gruppe mit über 4000 Beiträgen überfliegt, stellt man fest, dass die allermeisten Mitglieder das auch ernst meinen.
Dabei spielt oft soziale Phobie eine Rolle. Ängste davor, anderen Menschen gegenüber zu treten, mit Fremden sprechen zu müssen, unbekannte Situationen, Eindringen in die Privatsphäre, und das ohne sich darauf vorbereiten zu können, unerwartet, eben durch plötzliches Klingeln, nicht auf neutralem Terrain sondern an der eigenen Wohnungstür.
Andererseits besteht eigentlich in der ganzen Bevölkerung, IMHO zu Recht, eine gewisse Skepsis, mit Fremden an der Tür zu reden, besonders die Tür zu öffnen, oder gar, die Leute hinein zu lassen.
Insbesondere dein Verein warnt doch regelmäßig davor; zuletzt habe ich das vor kurzem in „Aktenzeichen XY“ gesehen, wo ein Kripo-Beamter unmissverständlich riet, _niemand_ Unbekanntem die Tür zu öffnen bzw. in die Wohnung zu lassen, egal worum es angeblich geht. Die Maschen der Trickbetrüger sind schließlich beliebig ausgefeilt, von der Bitte um Hilfe wegen eines Unfalls oder einer Schwangeren um ein Glas Wasser bis hin zu den falschen Handwerken oder gar vorgeblichen Polizisten.
Bei Frauen dürfte überdies besonders eine Angst vor Gewalttätern bzw. Vergewaltigern eine Rolle spielen. O.K. nun war das offenbar 'bloß' eine alte Frau, die nach Hilfe rief, aber die prinzipielle Angst, an die Tür zu gehen, muss eben erst mal überwunden werden. Es könnte ja auch sein, dass es sich bei der Notsituation um einen Angriff handelt, noch weitere Personen draußen sind und man sich beim Öffnen selbst in Gefahr begeben würde. Vielleicht besteht auch erst mal eine Art Schock/Verwirrung, die einen warten und grübeln lässt, was zu tun wäre.
Dazu hat der Normalbürger Hemmungen davor, bei der Polizei/Rettung anzurufen, „vielleicht ist es ja doch nicht so wichtig und ich mach mich nur lächerlich“, „vielleicht nehmen die mich überhaupt nicht ernst und kommen eh nicht“, „dann muss ich denen ja meine Daten geben und am Ende stehen sie noch bei mir vor der Tür“ - gefolgt von „was sollen denn da die Nachbarn denken“ oder „wenn die merken, dass ich schon vier Bier / zwei Joints / sonstwas intus habe, krieg ich selber noch Ärger“ …

Ich z.B. habe / musste erst ein Mal die Polizei rufen, weil irgendwo im Haus seit einer ganzen Weile schon ein ungekannt heftiger (hörte sich gewalttätig an) und lauter „Ehestreit“ abging und ich außerdem dadurch nicht schlafen konnte, was doof war, da ich am nächsten Morgen eine Klausur hatte. Also kurz auf der örtlichen Wache angerufen und Bescheid gesagt. Ergebnis war, dass mich 20min später vier Beamte aus dem Bett geklingelt haben, um ins Haus zu kommen und zu fragen, in welcher Wohnung denn gestritten würde, weil nun nichts zu hören sei. Da ich das zuvor rein akustisch auch nicht hatte orten können, durfte ich bloß noch x Fragen für's Protokoll beantworten; darauf sind die Herren und Damen einfach wieder abgezogen.
Jedenfalls verzichte ich seitdem darauf, die Polizei zu rufen, wenn im Haus mal wieder undefinierbar (ohne direkte Hilferufe) gestritten wird, nachts Musik dröhnt, Feuerwerk vom Balkon abgefeuert wird, auf dem Parkplatz gegenüber Driftingübungen ablaufen etc.; denn dagegen schafft mir Ohropax sofort und zuverlässig Abhilfe, während die Polizei eine halbe Ewigkeit braucht und mir dann wahrscheinlich nur noch mehr Scherereien verursacht.
Wenn wirklich Anlass zur Annahme einer medizinischen Notsituation besteht, wäre es natürlich was anderes, da würde ich auch versuchen, unverzüglich erste Hilfe zu leisten; und für den Fall einer Nothilfesituation bin ich recht hinreichend gewappnet (legal natürlich), dass für die Polizei womöglich hinterher nur die Spurensicherung und der Papierkram übrig bleiben könnte...
Menschen in Not zu helfen halte ich für eine Selbstverständlichkeit, eine Frage der Grundüberzeugungen und der Ehre.
Mein Vater war unberechenbarer Alkoholiker, vor dem meine Mutter u.a. damals mit mir als Kind mehrmals nachts zu Nachbarn und ein Mal quer durch den Ort zur – defekten – einzigen Telefonzelle und darauf weiter zum nächstbesten Haus geflohen ist, wo eine unbekannte Familie öffnete und uns weiter half, bis die Polizei kam (die nach fünf Minuten auch schon wieder weg war, weil die Beamten a) anders als heute keine rechtliche Handhabe hatten, um den Aggressor der Wohnung zu verweisen und b) sie desinteressierte Unmenschen waren, deren ganze Wache nebenbei bemerkt einige Zeit später personell komplett umgekrempelt wurde, weil sie im Rotlichtmilieu, Menschen- und Drogenhandel aktiv waren...

Ich kann auch nur unterstützen, was hier schon jemand gesagt hat – der Anruf bei _dir_ könnte entscheidend den Eindruck des anrufenden Bürgers von der Polizei insgesamt prägen. Pampige Antworten und negativ formulierte Kritik würde ich mir deshalb tunlichst verkneifen – in der Zukunft könnten andere darunter leiden; sowohl Leute, denen niemand mehr Hilfe ruft, als auch Kollegen, die auf abweisend oder gar feindselig reagierende Bürger stoßen.
Mein Bild von den hiesigen Polizisten z.B. hat sich von neutral Richtung „Trantüten“ verschoben, nachdem ich knapp eine Stunde bei einem Beamten saß, um einen simplen Fahrraddiebstahl zur Anzeige zu bringen, weil er mit dem PC nicht ansatzweise zurecht kam.

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